Jürgen Geiß

Inkunabeln in Wuppertal. Alte Bücher in modernen Bibliotheken.

In: Geschichte im Wuppertal 11 (2002), S. 17–26

Auf seiner Suche nach alten und wertvollen Büchern wird der ambitionierte Frühdruckforscher mit Sicherheit ein- oder mehrmals in eine der großen Sammlungen dieser Welt reisen, in die British Library in London etwa oder in die Bibliothèque Nationale zu Paris, in die Bibliotheca Apostolica Vaticana, die Library of Congress in Washington/DC oder in die Staatsbibliotheken in München und Berlin. Wuppertal wird er in seiner Reiseliste wohl ganz hinten ansetzen, wahrscheinlich jedoch ganz auslassen. Dies zu Unrecht; denn unser Forscher würde auch hier auf einen reichen Bestand an Frühdrucken des 16. bis 18. Jahrhunderts stoßen, ja sogar auf Inkunabeln, die frühesten und wertvollsten Zeugnisse der Druckkunst. In den Magazinen von Stadt- und Universitätsbibliothek könnte er Entdeckungen machen, die sowohl für seine Arbeit wie auch für die Druck-, Bibliotheks-, Literatur- und Kulturgeschichte wesentliche Bereicherungen darstellen würden. Die meisten Inkunabeln, nämlich 74 Ausgaben, würde er in der Wuppertaler Stadtbibliothek finden; in der Bibliothek der Bergischen Universität fände er hingegen nur eine, wenn auch sehr bedeutende Inkunabelausgabe (s.u.).

Es läßt sich nur darüber spekulieren, weshalb bislang nur ein kleiner Kreis eingeweihter Fachleute die Wuppertaler Inkunabeln konsultiert hat. Vielleicht liegt dies an der ungenügenden Erschließungssituation, obwohl diese - verglichen mit Bibliotheken ähnlichen Zuschnitts - als nicht schlecht zu bezeichnen ist: Die Inkunabelbestände der Wuppertaler Bibliotheken sind im ‚Handbuch der Historischen Buchbestände’ immerhin grob beschrieben; die Ausgaben sind zudem im per CD-ROM verfügbaren ‚Illustrated Incunabula Short Title Catalogue’ (IISTC) sowie im Manuskript des ‚Gesamtkataloges der Wiegendrucke’ an der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz verzeichnet. Schließlich steht dem Forscher in der Stadtbibliothek ein maschinenschriftliches Katalogmanuskript der dort vorhandenen Inkunabelausgaben zur Verfügung, das Dr. Klaus Weyand, der frühere Referent für den wissenschaftlichen Altbestand, dort um 1980/84 erarbeitet hat. Was bislang jedoch fehlt, ist die wohl wichtigste Brücke zwischen den heutigen Besitzern und Benutzern von Inkunabeln - eine Beschreibung der exemplarspezifischen Merkmale jedes einzelnen Buchs als einem individuellen Druckexemplar mit eigener Erscheinungsform und Geschichte. Ohne diese Angaben bleiben die Nennungen von Inkunabelausgaben dürre bibliographische Informationen für Eingeweihte, wird das einzelne Buch als schlichter Repräsentant einer gedruckten Auflage zur bloßen Nummer, bleibt uns Heutigen der „Sitz im Leben” alter Bücher verborgen. Da ich im Sommer 2000 am Rande meines Praktikums für die Ausbildung zum höheren Bibliotheksdienst die Inkunabeln an Stadt- und Universitätsbibibliothek untersuchen konnte, sollen sie hier - nach einer Veranstaltung der „Freunde der Stadtbibliothek e.V.” am 16. Januar 2001 - in einem größeren Rahmen der historisch interessierten Öffentlichkeit vor Ort präsentiert und in ihren Besonderheiten charakterisiert werden.


Die „Kindheit” des frühen Buchdrucks

„Inkunabeln” oder „Wiegendrucke” - das sind die ältesten Erzeugnisse der Druckkunst nach der revolutionären Erfindung des Druckens mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg in Straßburg und Mainz in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren des 15. Jahrhunderts. Das Wort „Inkunabel” ist abgeleitet vom lateinischen incunabula, was bereits in der römischen Antike die Tücher oder Bänder bezeichnete, mit denen man kleine Kinder zu wickeln pflegte. Dementsprechend steht der deutsche Begriff „Wiegendruck” nicht - wie landläufig immer wieder angenommen wird - stellvertretend für die scheinbare Besonderheit der neuen Drucktechnik, sondern für die „Kindheit” des frühen Buchdrucks, als dieser gewissermaßen noch in der Wiege lag. Wie lange diese „Kindheit” dauerte, ist in der Buch- und Frühdruckforschung lange umstritten gewesen und ist es noch bis heute. Als Beginn gilt natürlich die Geburtsstunde des Buchdrucks, die mit den ersten Erzeugnissen aus Gutenbergs Mainzer Presse, mit Gelegenheits- und Kleinschrifttum wie Ablaßbriefen, Kalendern, Elementargrammatiken sowie der großartigen 42zeiligen Bibel schlug. Freilich ist diese Geburtsstunde nicht mit wünschenswerter Exaktheit zu datieren. Inzwischen hat man sich auf den Beginn der fünziger Jahre des 15. Jahrhunderts geeinigt. Auf das chronologische Ende der „Kindheit” hat man sich bereits unter den frühen Inkunabelbibliographen des 19. Jahrhunderts auf das Jahr 1500 verständigt. Eine sehr formale Grenzziehung freilich, denn im Druckwesen des 15. Jahrhunderts ist schon seit den achtziger Jahren eine Emanzipation des Buchdrucks von der Handschrift als alleiniger Trägerin von Schriftlichkeit erkennbar; der nächste große Einschnitt ist erst mit der Reformation und den damit einhergehenden Umwälzungen auf dem Markt gedruckter Bücher zu Beginn der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts erreicht. Immerhin liegt das formale Datum 1500 in der Mitte zwischen den beiden druckgeschichtlich wirklich relevanten Umbrüchen, so daß man es - auch mit Rücksicht auf die wissenschaftsgeschichtlicher Kontinuität - bei dem Stichtag 31. Dezember 1500 für eine „Noch-Inkunabel” belassen hat. Festzuhalten bleibt freilich, daß die heutige „Inkunabelgrenze” für zeitgenössische Leser und Käufer von Büchern völlig irrelevant war. Dies bezeugt auch ein Sammelband der Wuppertaler Stadtbibliothek (Ink. 1-8°), in dem eine Basler Inkunabel von etwa 1497/98 (Jacobus Philippi: Compendium de reformatione canonissarum, monialium et monachorum: H 5569) mit einem Pariser Frühdruck von 1502 (Pseudo-Bernardus Claraevallensis: Modus bene vivendi ad sororem etc.: Moreau I, 66 (an Ink. 1-8°) im frühen 16. Jahrhundert zusammengebunden wurde. Brücke der Verknüpfung der beiden Drucke in einem Band scheint der gemeinsame Textbezug auf die spätmittelalterliche Kirchenreform zu sein. Da sich der Band im 17. Jahrhundert im Besitz des benediktinischen Reformklosters Sankt Emmeram in Regensburg befand, wird man kaum fehlgehen, auch die Auswahl und Kombination der einschlägigen Texte in den Zusammenhang der vorreformatorischen Klosterreform zu stellen. Die Herkunft der Drucke oder gar das Datum ihrer Herstellung spielten in diesem Zusammenhang keine oder eine nur untergeordnete Rolle - wichtig waren offensichtlich die Texte.


Typisches und Besonderheiten der Wuppertaler Inkunabeln

Die Inkunabeln der Wuppertaler Stadtbibliothek sind durchwegs Gebrauchsbücher ohne herausragende druckgeschichtliche Besonderheiten. Daher spiegeln sich in ihnen ziemlich genau die allgemeinen Grundzüge des frühen Buchdrucks bis 1500. Die Sprache ist fast immer das Lateinische, nur ausnahmsweise finden sich Drucke in den Volksprachen - hier in Deutsch und Italienisch - bei einem Anteil von unter 10%. Bei den Themen dominieren Predigt und Theologie, Frömmigkeit und Religiosität, Recht und Geschichte, Schule und Unterricht sowie humanistische Literatur. Spezialisiertes Fachschrifttum ist eher sporadisch vertreten. Auch gedruckte Verbrauchsliteratur, wie Kalender, Aderlaßtafeln, Schultexte, die früher massenhaft verbreitet gewesen sein müssen, haben sich nur ganz vereinzelt als Fragmente im Schutz der Einbanddeckel oder in den Fälzen der Lagen erhalten. In einem Band der Stadtbibliothek, der die um 1488/91 in Straßburg gedruckten Predigtsammlung ‚Sermones vademecum’ des Johannes Vercellensis enthält, finden sich beispielsweise schmale Streifen eines als Einblattdruck erschienenen Kalenders, die als Bindematerial zum Schutz der Papierlagen verwendet wurden (Ink. 13-8°: HC 9431). Der Einblattdruck - sehr wahrscheinlich eine Inkunabel - konnte bislang noch nicht identifiziert werden.

Inkunabeln auf Pergament, wie sie im 15. Jahrhundert sehr vereinzelt für besonders repräsentative oder häufig konsultierte Texte, vor allem liturgische und juristische Schriften, verwendet wurden, sucht man in Wuppertal vergebens. Die hier vorhandenen Ausgaben sind durchwegs auf Papier, den wichtigsten „Datenträger” für Texte im 15. Jahrhundert, gedruckt. Bei den Druckorten haben offenbar regionale Interessen in der Wuppertaler Stadtbibliothek den Ankauf bestimmt. So ragt die - freilich bedeutende - Druckstadt Köln mit 17 Ausgaben überproportional aus der Gruppe der relativ gleichmäßig überlieferten Inkunabelhauptorte heraus (Venedig 13 Ausgaben, Basel 12, Nürnberg 7, Straßburg 6, Ulm 5).

Der Hauptwert der Inkunabelsammlung der Wuppertaler Stadtbibliothek liegt in den Provenienzen, d.h. bei den Zuweisungen in alte Sammlungszusammenhänge von Privatleuten oder Einrichtungen wie Klöstern, Kirchen, Schulen usw. Nach den Zerstörungen fast aller alten Büchersammlungen in Mitteleuropa durch Reformation, Dreißigjährigen Krieg und Säkularisation stellen die erhaltenen Bestände fast aller Bibliotheken Deutschlands nur noch mosaikartige Überreste ehemals reicher Sammlungen dar, deren ursprüngliche Struktur nur mühsam und mit erheblichen Verlusten rekonstruiert werden kann. Da die Wuppertaler Inkunabeln nicht aus gewachsenen Beständen überliefert sind (mehr dazu unten), sind die Besitzprovenienzen der einzelnen Exemplare weit gestreut. Ein größerer Teil kommt aus den durch die Säkularisation erst im 19. Jahrhundert aufgelösten Klosterbibliotheken katholischer Gebiete. Vertreten sind etwa die Benediktinerklöster Sankt Emmeram in Regensburg (s.o.), Sankt Ulrich und Afra in Augsburg (Ink. 24-8°), Irsee/Ostallgäu (Ink. 47-4°), Tholey/Saarland (Ink. 5/6-4°), das Zisterzienserkloster Fürstenfeld bei München (Ink. 52 Fl 1 ½), die Kartause Prüll bei Regensburg (Ink. 2/3-8°); dazu kommen das Franziskanerkloster Lüneburg (Ink. 30/31-4°), das Dominikanerkloster Retz/Niederösterreich (Ink. 43-4°) sowie das Kapuzinerkloster Brenschede/Sauerland (Ink. 11-4°). Inkunabeln aus Privatbesitz finden sich seltener, und wenn, so sind die Besitzer häufig nicht mehr zu identifizieren.

Bei etwa einem Drittel des Gesamtbestandes haben sich die Drucke im Originaleinband erhalten. Es handelt sich fast immer um Ledereinbände über Holz, teilweise mit noch erhaltenen Eckbeschlägen und Buckeln, vereinzelt auch mit einem rostigen Loch im Rückdeckel als Überrest einer ehemaliger Kettenbefestigung (z.B. Ink. 4-4°). Über den Stempelschmuck konnte ich eine Reihe der Einbände zeitgenössischen Buchbinderateliers zuordnen, zumeist in den großen Buchhandelszentren der Zeit. Bezeugt sind zahlreiche spätgotische Werkstätten aus Nürnberg, Eichstätt, Ulm, Augsburg, Konstanz, Köln, Lüneburg, Uelzen, Magedeburg, Erfurt und Krakau.


Individualität alter Drucke vor dem Hintergrund ihrer technischen Reproduzierbarkeit

In den Wuppertaler Beständen befindet sich keine der ganz frühen Ausgaben der fünziger und sechziger Jahre, einer Zeit, als ohnehin nur in einem knappen Dutzend deutscher und italienischer Städte Druckpressen existierten und sich die Produktion insgesamt noch in überschaubaren Quantitäten bewegte. Die älteste in Wuppertal vorhandene Inkunabel ist eine äußerlich recht unscheinbare Ausgabe mit Texten des Pariser Frömmigkeitstheologen Johannes Gerson, die nicht nach 1470 bei Johann Zell in Köln in den Druck ging (Ink. Pp 4020 ½: H 7639). Das schmale Buch befand sich früher an der Spitze eines Sammelbandes, wie ein zeitgenössisches Inhaltsverzeichnis ausweist, in dem weitere, heute verlorene Texte verzeichnet sind. Zumindest der zweite und dritte Text gehörten zu einer weiteren Ausgabe von Gerson, die um 1468 ebenfalls bei Zell in Köln erschien (GW 10767). Für diese Art vertriebsmäßiger „Konvoi-Bildung” von Drucken einer Werkstatt ist der auch als Buchhändler bezeugte Zell auch sonst bekannt.

Nicht wenige der Wuppertaler Inkunabeln stammen aus den siebziger und frühen achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts und damit aus der buchhistorisch höchst bedeutsamen Übergangszeit vom Schreiben zum Drucken. Noch allenthalben zeigt sich das handschriftliche Element im Buchdruck, denn die Fertigstellung des gedruckten Buches beschränkte sich zu dieser Zeit fast immer auf das Ausdrucken in den Druckwerkstätten (Offizinen). Die Bücher gingen in der Regel ohne Einband und sehr häufig ohne den obligatorischen Buchschmuck in den Handel. Als „Rohware” wurden sie - zumeist in Fässern gegen Nässe geschützt - per Fluß-, Land- oder Seewege über weite Strecken transportiert. Wo sie nicht direkt vom handwerklich versierten Käufer, etwa in klostereigenen Ateliers, gebunden wurden, erhielten sie erst in regionalen Buchumschlagplätzen ihren Einband. Vor allem die schmalen Drucke, wie die oben genannte Gerson-Ausgabe aus Köln, wurden dabei häufig mit anderen Drucken oder auch mit Handschriften zusammengebunden. Weiterhin wurden die Bücher oft von professionellen Buch- oder Kartenmalern mit Überschriften, Registern, Paragraphenzeichen und Schmuckbuchstaben versehen (wegen der zumeist verwendeten roten Farbe wird dieser Vorgang als „Rubrizierung” bezeichnet) oder aufwendig illustriert. Erst danach galt dem zeitgenössischen Händler und Käufer das Buch als fertiggestellt. Da die Offizinen etwa ab den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts mehr und mehr dazu übergingen, die bisher handschriftlich ergänzten Elemente gleich mitzudrucken und die Bücher auch im Einband zu vertreiben („Verlegereinbände”), ist der Übergang vom Schreiben zum Drucken in diesem Jahrzehnt am deutlichsten zu beobachten.

Eine Inkunabel, die in den siebziger Jahren gedruckt wurde, unterschied sich also von einem Druck der neunziger Jahre schon äußerlich ganz erheblich. Andererseits muß man auch berücksichtigen, daß sich der Übergang vom Schreiben zum Drucken in den Inkunabeln langsam und mit bedeutenden Unterschieden von Ort zu Ort und von Offizin zu Offizin vollzog. Vorreiter der geschilderten Rationalisierung waren die Inhaber großer, europaweit agierender Verlagshäuser. Dazu zählen etwa Johannes Amerbach in Basel, Anton Koberger in Nürnberg, Johannes Grüninger in Straßburg oder Johannes und Gregorius de Gregoriis in Venedig. Erzeugnisse aus diesen Offizinen sind auch in Wuppertal gut belegt. Die Großkaufleute selbst waren in der Regel sowohl als Verleger als auch als Buchhändler tätig, hielten vor Ort Lohndrucker, Buchbinder und Holzschneider unter Vertrag und sorgten mit Hilfe von Handelsvertretern (Faktoren) durch ein quer durch Europa geknüpftes Vertriebsnetz sehr effizient für den Absatz ihrer Druckerzeugnisse.

Einen guten Eindruck vom Netz der Produzenten, Zuarbeiter, Händler und Käufer von Inkunabeln vermitteln sechs Bände aus dem Bestand der Stadtbibliothek, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Bei dem ersten handelt es sich um eine Ausgabe der ‚Margarita poetica’ des Frühhumanisten Albrecht von Eyb von 1495 aus der Offizin Amerbachs in Basel, der in einer in Eichstätt oder Ingolstadt ansässigen Werkstatt gebunden wurde (Ink. 27-4°: GW 9537). Der Inhalt des Textes, eine für die damalige Zeit moderne Zusammenstellung rhetorischer Mustertexte aus Antike und italienischem Humanismus, spricht zusammen mit dem Bindeort für einen Käufer im Umfeld der Universität Ingolstadt, wo sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts unter dem Einfluß des deutschen „Erzhumanisten” Konrad Celtis erste Einflüsse der neuen Bildungsbewegung feststellen lassen. Ein zweiter Band aus Amerbachs Offizin, eine als ‚Thesauri novi’ bekannte und 1485 gedruckte Predigtsammlung in lateinischer Sprache, wurde Ende des 15. Jahrhunderts im fernen Krakau gebunden (Ink. 51-4°: CR 5412). Der auf 1572 datierte Besitzvermerk eines Vikars Jacobus Mloderianus in Tolostom spricht für die frühe Verwendung des Buches im südpolnisch-nordungarischen Weltklerus. Ein Straßburger Druck von 1489 mit einer als ‚Sermones Discipuli’ bezeichneten Sammlung des beliebten Predigers Johannes Herolt aus der Offizin des Straßburger Druckerverlegers Grüninger erhielt erst in Magdeburg, einem wichtigen Fernhandelsumschlagplatz im Nordosten Deutschlands, seinen Einband (Ink. 28-4°: GW 12368). Zwei Einträge eines Frater Theodericus zeigen hier, daß der Band aller Wahrscheinlichkeit nach in Mönchsbesitz war, vermutlich aus dem Franziskaner- oder Dominikanerorden, die in den spätmittelalterlichen Städten die Hauptlast der Predigttätigkeit trugen. Ein einzelner Band einer ursprünglich vierbändigen Bibel aus der Nürnberger Druckwerkstatt Kobergers von 1485 (Ink. 16-4°: GW 4288) wurde offenbar zunächst nach Köln transportiert, wo er in einer der großen Werkstätten vor Ort gebunden und mit einem für den Niederrhein typischen Buchschmuck im sog. „Fraterherrenstil” ausgeschmückt wurde. Eine Kettenöse am Rückdeckel spricht für die Pultbibliothek in einem der zahlreichen Kölner Klöster als ersten Aufbewahrungsort; hier war das Buch mit einer Kette vor Diebstahl gesichert. In das Lüneburger Franziskanerkloster gehört schließlich ein Sammelband mit lateinischen Predigten Bernhards von Clairvaux, die 1494-1495 bei Nikolaus Kessler in Basel gedruckt worden waren (Ink. 30/31-4°: GW 3944). Die bislang unbekannte Einbandwerkstatt wurde durch Vergleich mit weiteren Bänden aus dem Bestand der Stadtbibliothek Lüneburg, die große Teile der ehemaligen Franziskanerbibliothek in ihrem Besitz hat, aufgedeckt. Im Wuppertaler Band unterstützt eine weitere Kettenöse zusätzlich die Herkunft aus dem Minoritenkloster.

Zusammengenommen bezeugen die vorgestellten Inkunabeln aus Wuppertal sehr eindrücklich die weiten Strecken, die Inkunabeln auf ihrem Weg vom Produktions- zum Verkaufssort zurücklegten, aber auch das für die achtziger und neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts typische Gefälle zwischen den wirtschaftlich prosperierenden Handelszentren im Süden und Westen Deutschlands mit ihrer großen Dichte an Druckorten gegenüber den eher passiv aufnehmenden Fernhandelsstädten des Nordens und Ostens.

Nicht selten kam es vor, daß die Großen im Druckgeschäft nicht nur konkurrierten, sondern - wenn es die Auftragsbücher und die Aussicht auf Gewinn zuließen - auch zusammenarbeiteten. Man tauschte Typenmaterial aus, gab, wenn die eigenen Pressen ausgelastet waren, Aufträge an Berufskollegen weiter und übernahm auch Kontingente des Konkurrenten, um diese - nach „Veredelung” durch assoziierte Lieferanten - gewinnbringend weiter zu verkaufen. Spuren eines derart arbeitsteiligen Geschäftsverhältnisses im Buchgewerbe an der Schwelle zur Neuzeit lassen sich auch an einem Band der Stadtbibliothek feststellen (Ink. Pr 296 ½). Gedruckt wurde das Buch - es handelt sich hier um einen Kommentar des Kirchenjuristen Alonso Díaz de Montalvo (GW 8308) - um 1487/88 bei Amerbach in Basel, gebunden hat es eine professionelle Nürnberger Werkstatt, die bevorzugt im Auftrag des Druckherren Anton Koberger arbeitete. Geschäftskontakte zwischen den beiden Großverlegern sind über deren teilweise erhaltene Briefkorrespondenzen bezeugt. Der mit Koberger assoziierte Buchbinder hat den Druck in Nürnberg nicht nur mit einem soliden Ledereinband über Holz (vgl. Abb. 8) versehen, sondern auf diesem auch Buckel und fein ziselierte Beschläge zum Schutz und Schmuck des Buches aufgebracht. Leider wissen wir nicht, in wessen Besitz der stattliche Band nach dieser Bearbeitung ging, aber es kann als sicher gelten, daß der als Verleger und Buchhändler erfolgreiche Koberger den ehemals prächtigen Band für nicht geringes Geld weiterverkaufen konnte.

Durch die genannten individuellen Merkmale ist bei Inkunabeln - weit mehr als bei Erzeugnissen gedruckter Massenproduktion heutiger Tage - der Unterschied zwischen Ausgabe und dem einzelnen Exemplar einer Auflage weit deutlicher zu beobachten. Abgesehen von der Seltenheit mancher Exemplare - von manchen Auflagen hat sich nur noch eine einzige Kopie erhalten - machen diese Spuren individueller Ausstattung (Einband, Buchschmuck, Besitzgeschichte) heute den eigentlichen Wert des einzelnen alten Buchs aus. Spuren der Benutzung, etwa Flecke von Talgkerzen in einem Gebetbuch, Einträge über Hexenbekämpfung in einer kirchlichen Chronik oder Besitzvermerke mit autobiographischen Details, sind aus der Perspektive des Kulturhistorikers keine wertmindernden Eigenschaften für das einzelne Buch, sondern im Gegenteil wertvolle Hinweise auf die Bedeutung und Funktion, das das einzelne Buch für die Besitzer durch die Zeiten hindurch hatte. Wie oben gezeigt, lassen die zeitgenössischen Buchbinder und Besitzvermerke Aufschlüsse über den Verlauf der Handelswege mit Büchern und über die individuelle Besitzgeschichte des einzelnen Buches zu. Glossen vermitteln Einblicke in die Rezeption von Texten, über bestätigende oder ablehnende Haltungen der Leser verschiedener Jahrhunderte zum Inhalt, über Zeiten auflebenden und nachlassenden Interesses am gedruckten Text. Über die Art der Kommentierung ist der heutige Leser immer wieder verwundert, so z.B. in einem um 1487 in Ulm erschienenen Psalter in deutscher Sprache (Ink. Pp 7919 ½: H 13513), einem Buch privater Frömmigkeit also, das ausnahmsweise um 1500 in einem Verlegereinband am Druckort gebunden wurde. Hier findet man ein handschriftlich eingetragenes Gedicht mit einem nicht ganz zu durchschauenden, vermutlich erotischen Inhalt: Das thuo ich jeden tag / so thuon ichs, wann ich mag [kann] / ich denckh noch, das ichs zúch pflag [mit Euch trieb] / ho, ho, thuot mann es nach [man tut es jetzt noch]. Ein ganz anderer Geist klösterlicher Frömmigkeit spricht hingegen aus dem Wuppertaler Exemplar einer lateinischen, 1487 in Basel bei Nikolaus Kessler gedruckten Bibel (Ink. 29-4°: GW 4262), in die im 16. Jahrhundert kalendarische Vermerke ad mensam, d.h. zur klösterlichen Tischlesung, eingetragen wurden. Teilweise sind diese Vermerke im 17. und 18. Jahrhundert mit kleinen Zetteln überklebt und aktualisiert worden, was beweist, daß der gedruckte Text noch drei Jahrhunderte nach seinem Entstehen Verwendung im Umfeld monastischen Lebens fand. In der Inkunabel Ink. 18-8°, einer bei Koberger in Nürnberg 1494 gedruckten Ausgabe des lateinischen ‚Hexenhammers’ (‚Malleus maleficarum’) von Heinrich Institoris und Jakob Sprenger, einem der ideologischen Wegbereiter der Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts, findet sich auf Bl. 79v-80r ein handschriftlicher Eintrag über Hexen im Umfeld des niedersächsischen Adels. Ob es sich bei dem dort genannten Graf Bruno von Querfurt, der angeblich mit einer Hexe zusammengelebt hatte, um den im 10./11. Jh. bezeugten gleichnamigen Bischof von Magdeburg gehandelt hat, ist unklar. Der auf 1496 datierte Vermerk bezieht sich ferner auf das Auftreten von Hexen im Umfeld der Grafen von Stolberg. Auch hier sind die historischen Bezüge bislang noch nicht geklärt. Dennoch zeigt der Eintrag die unmittelbare Wirkung des gedruckten Textes bereits zwei Jahre nach Erscheinen und macht deutlich, daß die zeitgenössischen Leser zwischen der Schrift und ihrer eigenen Umwelt einen historischen oder aktuellen Bezug herzustellen suchten.


Wie kamen die Inkunabeln nach Wuppertal?

Aus den bisherigen Ausführungen ist klar geworden, daß weder Produktion noch Rezeption der Wuppertaler Inkunabeln etwas mit ihrem heutigen Aufbewahrungsort zu tun haben. Das hat einen Grund, denn sämtliche heute in Wuppertal befindlichen Inkunabeln sind erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Stadt gekommen. Der Bestand der Stadtbibliothek trägt das Signum eines Neuanfangs, denn hier stand man nach dem zweiten Weltkrieg vor der Situation eines katastrophalen Totalverlustes des Vorkriegsbestandes an historischen Drucken von 25.000 Bänden. Mit diesem, in einen Bunker in Köln-Mülheim ausgelagerten wertvollen Altbestand verbrannten noch in den letzten Kriegstagen in einem vernichtenden Großfeuer 25 Inkunabeln. Die Herkunft und der Inhalt dieser Vorkriegsinkunabeln, die möglicherweise zum Teil aus der alten Wuppertaler Rats- oder aus örtlichen Kirchenbibliotheken stammten, ist heute unbekannt bzw. wäre nur nach mühsamer Durchsicht der teilweise erhalten gebliebenen Vorkriegskataloge zu rekonstruieren.

Die ersten Nachkäufe setzten - abgesehen von einer noch 1944 erworbenen Inkunabel - in der Stadtbibliothek 1948/49 ein und erreichten in den fünfziger Jahren und in den frühen sechziger Jahren ihren Höhepunkt. Die letzten Anschaffungen fallen in das Jahr 1964. Die meisten Inkunabeln konnten von Antiquaren in Hamburg, Berlin und Hilversum/NL für relativ geringes Geld erworben werden, wie häufig eingeklebte Händleranzeigen verraten. An der Kurve des systematischen Ankaufs von Inkunabeln spiegelt sich recht deutlich die lokale Bibliothekspolitik in Wuppertal vor der Gründung der Gesamthochschulbibliothek 1972. Die Aufgaben der damaligen Wissenschaftlichen Stadtbibliothek schlugen sich u.a. in der Erwerbungspolitik von alten Drucken nieder; erst die Vorbereitung der Strukturreform im Wuppertaler Bibliothekswesen brachte bedeutende Veränderungen im Erwerbungsprofil mit sich. Auch der Ankauf alter Bücher kam damals zum Erliegen, da sich die Stadtbibliothek seit Anfang der siebziger Jahre ausschließlich auf ihre Aufgaben im öffentlichen Bibliothekswesen konzentrierte. Die im Magazin befindlichen Inkunabeln wurden in dieser Zeit nach und nach aus dem Gesamtbestand herausgezogen und in einen eigenen Raum für seltene Bücher (Rara) überführt. Hier befinden sich heute neben einigen mittelalterlichen Handschriften und den Inkunabeln noch 120 Bde aus der ersten Hälfte sowie 93 Bde aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die bereits oben genannte Inkunabelbestandsliste wurde im Zuge der Separierung des Altbestandes erarbeitet.

Bei der Bibliothek der als Reformuniversität gegründeten Gesamthochschule Wuppertal stand die Erwerbung von Altbeständen - gar von den wertvollen und kostspieligen Inkunabeln - von Anfang an nicht zur Debatte. Es ist nur einem besonders glücklichen Zufall zu verdanken, daß mit der 1984 erworbenen Professorenbibliothek des Kölner Altphilologen Günther Jachmann (1887-1982) eine am 28. Mai 1490 bei Johann Fabri in Lyon gedruckte Inkunabel mit den kommentierten Werken des altrömischen Komödiendichters Terenz in den Bestand der Bibliothek gelangte (04 ZZWX 4894). Die Ausgabe ist Unikat, das heißt das einzige weltweit erhaltene Exemplar der ganzen Auflage. Sie ist daher noch in keiner der großen Inkunabelbibliographien mit einer eigenen Nummer geführt. Der Drucker hatte den Druck als Schulausgabe konzipiert, mit dem Originaltext im Inneren und einem umlaufenden Kommentar des in Padua tätigen Gräzisten Giovanni Calfurnio da Brescia (um 1450-1503). Ein lateinischer Besitzvermerk im Spiegel des Rückdeckels gibt zudem Auskunft darüber, auf welche Weise die Inkunabel Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Altphilologenkreisen von Hand zu Hand weitergegeben wurde. 1893 schenkte der Philologe Walter Oskar Ernst Amelung (1865-1927) das Buch in Rom seinem Fachkollegen Richard Wünsch (1869-1915), dieser gab den Band an Joseph Kroll weiter (1889-1980), der es in einem historisierenden Ledereinband auf Holz neu binden ließ und 1937 Günther Jachmann zum 50. Geburtstag schenkte. Für Jachmann, der in ‚Paulys Enzyklopädie der Antike’ u.a. den Artikel ‚Terenz’ verfaßte, hatte das Buch - wie verschiedene andere seiner Bibliothek auch - offenbar einen besonderen textkritischen Wert als früher Textzeuge, der Ende des 15. Jahrhunderts den humanistischen Bemühungen um den „originalen” Wortlaut sowie um die philologische Erschließung des antiken Klassikertextes entsprungen war.


Bewahren und Erschließen - ein Ausblick

Daß jede einzelne in Wuppertaler Bibliotheken lagernde Inkunabel im Verlaufe ihrer über 500jährigen Geschichte durch viele Hände gelangt ist, rabiate Benutzung, Kriege und Feuersbrünste, Hitze, Kälte und Feuchtigkeit, Mäuse und Würmer, Neubindungen und unsachgemäße „Renovierungen”, Bibliotheksauflösungen und Verlagerungen überstanden hat, ist den Büchern heute mehr oder minder anzusehen. Je älter, wertvoller und bedeutender die Drucke sind, desto mehr wächst für jeder Generation die Verpflichtung, die Zahl neuer Wunden und Narben an den alten Büchern möglichst gering zu halten und den Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Bewahrung der Orginalsubstanz auf der einen Seite und Nutzen und Benutzung auf der anderen ohne Absturz zu bestehen.

Für den Bereich des Bewahrens sind zwei Ebenen - die des passiven Konservierens und die des aktiven Restaurierens - zu unterscheiden. Bei den erfahrenen Restauratoren richtet sich das Augenmerk bei alten Büchern heute eindeutig auf die Konservierung. Man versucht dabei, die alte Substanz möglichst im Ist-Zustand zu belassen und Maßnahmen zu ergreifen, mit denen weitere Schädigungen verhindert werden können. Nur bei Stücken, bei denen dieser Prozeß durch eine passive Konservierung nicht mehr aufgehalten werden kann, wird vorsichtig in die Originalsubstanz eingegriffen. Für die Stadtbibliothek Wuppertal, das einige durch frühere Wasserschäden und deren Folgen (Zerfaserung des Papiers, Schimmelbildung) schwer geschädigte Stücke in ihrem Bestand hat, ergibt sich als Schwierigkeit der geringe finanzielle Spielraum einer Öffentlichen Bibliothek für die finanziell kostspielige Restaurierung dieser Bände. So war es ein Glücksfall, daß auf Vermittlung des Verfassers am 10. Januar 2001 ein Ortstermin mit Prof. Robert Fuchs, dem Leiter des Fachbereichs Restaurierung von Konservierung von Schriftgut, Grafik und Buchmalerei der Fachhochschule Köln, zustande kam, bei dem die Grundbedingungen der Lagerung der Inkunabeln im Rara-Magazin (Temperatur, Luftfeuchte) sowie die einzelnen Bände hinsichtlich ihres momentanen Zustandes überprüft wurden. Prof. Fuchs empfahl für die konservatorische Betreuung relativ kostengünstige Maßnahmen - eine mechanische Säuberung der einzelnen Bände, eine Pflege der Einbände mit einem speziellem Lederfett, die Unterbringung der Bücher in Pappboxen sowie die vorsichtige Ablösung der modernen Signaturschilder (Lösungsmittel!). Diese Maßnahmen können von der Stadtbibliothek selbst durchgeführt werden. Für einige, durch Holzwürmer, Wasser und Schimmel stärker geschädigter Stücke bot der ausgewiesene Fachmann der Stadtbibliothek an, diese gegen eine einfache Erstattung der Materialkosten an seinem Institut im Rahmen der studentischen Ausbildung als Lehrstücke im Laufe von 3-4 Jahren konservatorisch und restauratorisch zu behandeln. Dieses Projekt ist inzwischen abgeschlossen und hat für einige der stärker zerstörten Bücher eine weitgehende Sicherung der Originalsubstanz ergeben.

Es versteht sich von selbst, daß in den beiden Wuppertaler Bibliotheken mit Inkunabelbesitz die Erschließung alter Bücher nicht im Zentrum ihrer Aufgaben stehen kann. Zu vielfältig sind bei Universitäts- und Stadtbibliothek die Herausforderungen als moderne Informationsdienstleister und zu gering war bisher die Nachfrage von Nutzern nach ihren Altbeständen. Andererseits ist man sich in beiden Einrichtungen durchaus der Verpflichtung bewußt, die Altbestände über die konservatorischen Maßnahmen hinaus nach und nach sachgerecht und dem wissenschaftlichen Standard gemäß zu erschließen. Nach der Beschreibung der Individualität von Inkunabeln muß man wohl kaum eigens darauf hinweisen, daß eine Erfassung in einem modernen elektronischen Katalog (Online Public Access Catalogue), wie er bei Stadt- und Universitätsbibliothek im Einsatz ist, angesichts der auf moderne Bücher ausgerichtete und daher begrenzte Datenfeldstruktur kaum ausreicht. Aus diesem Grunde sich der Verfasser zur Erarbeitung eines wissenschaftlichen Inkunabelkataloges entschlossen, mit dessen Hilfe nun die Inkunabelschätze der Wuppertaler Bibliotheken über die Grenzen der Stadt hinaus publik gemacht werden können. Dabei konnte die Brücke zur Bibliothek als Informationsdienstleister durch die Aufbereitung dieses Kataloges für das Internet geschlagen werden.

Stand der Aktualisierung: 20. August 2006